Datum: 05.03.2016
Uhrzeit: 20:00 Uhr
Ort: Konzerthaus Berlin, Werner-Otto-Saal, Gendarmenmarkt, 10117 Berlin
Konzert der 7. Arbeitsphase des Landesjugendensembles Neue Musik Berlin
Konzert:
Samstag, 5. März 2016, 20 Uhr, Werner-Otto-Saal, Konzerthaus Berlin
Zum 80. Geburtstag des großen deutschen Komponisten im letzten Jahr haben wir ein nachträgliches Geburtstagskonzert mit Musik von Helmut Lachenmann und zweier seiner in Berlin lebender Schüler zusammengestellt.
Programm:
Helmut Lachenmann (*1935): Notturno (Musik für Julia) für kleines Orchester mit Violoncello-Solo (1966-68)
Violoncello Solo: Hugo Rannou
Das Stück wird zunächst kommentiert und unterbrochen vom Komponisten aufgeführt, um die Ohren der Zuhörenden zu öffnen und dann von Anfang bis Ende an einem Stück gespielt.
Elena Mendoza (*1973): Dort, doch auch, nicht, vielleicht für 13 sprechende Instrumentalisten in fünf Gruppen, unter Verwendung eines Gedichtes von Hans Magnus Enzensberger (2002/03)
Stefan Streich (*1961): Ritorno Grosso für Bassflöte, Viola und Kammerochester (2007/2012/2015, UA der Neufassung, einer Auftragsarbeit des Landesmusikrats Berlin)
Bassflöte Solo: Jonas Kämper
Viola Solo: Lina Däunert
Dirigenten: Jobst Liebrecht, Gerhard Scherer
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Im Porträt
Landesjugendensemble Neue Musik Berlin
Das jüngste Ensemble des Landesmusikrats Berlin wurde 2013 gegründet. In variierender Besetzung (ca. 20-30 MusikerInnen) widmet es sich Uraufführungen, Ensemble-Improvisationen und den Klassikern der Moderne. Konzerte fanden unter anderem in der Deutschen Oper Berlin, dem Konzerthaus Berlin, der Klangwerkstatt Berlin, der Akademie der Künste Berlin, den Randspielen statt. Dabei kamen Werke beispielsweise von Paul Hindemith, Luigi Nono, Hans Werner Henze, Katia Tschemberdji, Sarah Nemtsov, Jeffery Ching und anderen zu Gehör.
Gerhard Scherer wurde 1961 in Theley/Saar geboren. Er studierte Akkordeon und Kammermusik an der Musikhochschule Trossingen, lebt seit 1987 in Berlin und ist Akkordeonlehrer und Leiter des Fachbereichs Neue Musik an der Musikschule „Paul Hindemith“ Neukölln, Lehrer an der Musikschule Friedrichshain-Kreuzberg sowie Dozent an der HfK Bremen. Bereits 37 Mal wurden Schüler seiner Klasse Erste Preisträger beim Bundeswettbewerb „Jugend musiziert“. Als Solist und musikalischer Leiter brachte er bisher mehr als 200 Werke zur Uraufführung. Gerhard Scherer arbeitete unter anderem mit dem Rundfunk-Sinfonierorchester Berlin, dem Scharoun-Ensemble, dem Deutschen Symphonieorchester, der Dresdener Philharmonie, er gründete das Ensemble Experimente und war Musikalischer Leiter der Badischen Landesbühne Bruchsal. Er ist Herausgeber zweier bedeutender Neue-Musik-Reihen und war musikalischer Leiter unter anderem der Werkstatt Neues Musiktheater Berlin, ihm oblag die Uraufführung von bisher acht Opern.
Jobst Liebrecht wurde 1965 in Hamburg geboren. Er studierte Dirigieren in München und bei Peter Eötvös und dirigierte unter anderem das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, die Duisburger Philharmoniker, die Sinfonietta Leipzig, das Münchener Kammerorchester sowie an den Opernhäusern in Hamburg, Halle und Gießen. Im Bereich der Neuen Musik arbeitete er mit dem Ensemble Modern, dem Klangforum Wien, dem Ensemble Resonanz, dem Ensemble Mosaik sowie dem Ensemble UnitedBerlin zusammen. Unter seiner Leitung kamen zahlreiche Werke zu Ur- und Erstaufführungen. Seine CD-Einspielung von Hans Werner Henzes Märchenoper „Pollicino“ wurde 2004 mit einem Klassik ECHO ausgezeichnet. 2005 gründete er das Jugendsinfonieorchester Marzahn-Hellersdorf, das 2010 zusammen mit Solisten und Musikern des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin seine neu eingerichtete Gesamtfassung von Hindemiths „Plöner Musiktag“ auf CD einspielte. Auch als Komponist hat Jobst Liebrecht ein mittlerweile breites Œuvre aufzuweisen. Über viele Jahre war er Assistent und enger Mitarbeiter von Hans Werner Henze.
Hugo Rannou, 1990 geboren, studierte Violoncello in Amiens, in Paris (Frankreich), Freiburg und Stuttgart, u.a. bei Michel Poulet, Véronique Marin-Queyraz und Adriana Contino und Daniel Grosgurin und Conradin Brotbek. Er ist Mitglied des Streichtrios Resonance, des Trio 104 und tritt seither regelmäßig als Solist mit verschiedenen Orchestern auf. Beim Lion‘s Club Wettbewerb in Frankreich erhielt er den 3. Preis, den 1. Preis beim „Knopf“-Wettbewerb in Düsseldorf und den 2. Preis des „Julio Cardona“-Wettbewerbs in Covilha (Portugal). Ein Musikfestival („Musique au bois“ in Creuse/Frankreich) wurde von ihm mitbegründet. Neben der Kammermusik widmet er sich auch dem Jazz und der Alten Musik.
Hugo Rannou spielt ein Cello von Claude-Augustin Miremont aus dem Jahr 1873.
Lina-Marie Däunert, geboren 1996 in Berlin, ist Viola-Studentin an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin. Ihren ersten Geigenunterricht erhielt sie im Alter von sechs Jahren bei Ursula Jahnel, später bei Rainer Jahnel und Lothar Friedrich. Später musizierte sie als Solistin mit dem Kammerorchester Weißensee und war Konzertmeisterin des Jugendsinfonieorchesters am Händel-Gymnasium. Seit dem Wechsel auf die Bratsche ist Ditte Leser ihre Lehrerin, seit 2015 auch Máté Szücs. Zahlreiche Teilnahmen bei Jugend-musiziert Regional-, Landes- und Bundeswettbewerben mit auch zuletzt dem 1. Preis und 25 Punkten sowie verschiedene erworbene Stipendien zeichnen Lina-Marie Däunert aus. Sie musiziert in Streichquartetten und –sextetten, mit der Jungen Philharmonie Brandenburg, dem Jungen Sinfonieorchester Berlin und bei den Berliner Symphonikern, der Kammersymphonie Berlin und dem Neuen Kammerorchester Potsdam.
Lina-Marie Däunert spielt eine Bratsche von Natale Novelli aus dem Jahr 1938 (Leihgabe des Deutschen Musikinstrumentenfonds durch die Stiftung Deutsches Musikleben).
Jonas Kämper, geboren 1998 in Berlin, ist Jungstudent an der Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin und wird von Benoît Fromanger in Querflöte und Andrea Theinert in Traversflöte unterrichtet. Von 2006-2011 war er Mitglied im Kinderchor der Komischen Oper Berlin, dort erhielt er als Knabensopran eine Gesangsausbildung durch Jane Richter und Christoph Rosiny. Querflötenunterricht erhielt er bei Christiane Hellmann und Giovanni Enrico Lo Curto. Er ist Bundespreisträger bei Jugend musiziert 2015, im Landeswettbewerb erreichte er einen 1. Preis mit Höchstpunktzahl. Nebenbei nahm er einige Jahre bei Gabriel Iranyi Unterricht in Komposition. 2013 und 2015 gewann er den 1. Preis beim internationalen Kompositionswettbewerb Artistes en herbe in Luxemburg.
Er ist derzeitiger Soloflötist des Jungen Ensembles Berlin und jüngstes Mitglied im Deutschen Tonkünstlerverband.
Ensemble
Elias Adelson, David Albrecht, Henrike von Baeyer, Maya Chami, Marlene Compton, Julius Deckelmann, Peer Donath, Jakob Douvier, Moritz Düwel, Heinrich Eißmann, Fanny Goldmann, Benjamin Hellmundt, Milena Hoge, Marika Ikeya, Svenja Kaepernick, Leopold Kern, Raphael Kopp, Sebastian Lange, Frederick Majewski, Jona Mehlitz, Reiko Mori, Malin Sieberns, Daniel Stadtfeldt, Luca Staffiere, Charlotte Templin, Anton Thelemann, Dan Thiele, Lucas Tiefenthaler, Viet Anh Tran, Rebekka Wagner, Reto Weiche, Oliver Uszynski, Maxim Zhdanov; Adam Goodman
Komponisten und Werke
Helmut Lachenmann, 1935 in Stuttgart geboren, studierte Kompositionslehre bei Johann Nepomuk David in Stuttgart und war dann Schüler Luigi Nonos in Venedig. Selbst lehrte er Komposition in Basel, Hannover und Stuttgart.
Helmut Lachenmanns Musik kann als Postserialismus betrachtet werden, er selbst hat sie als „Musique concrète instrumentale“ bezeichnet. Diese Musik widmet sich, theoretisch fundiert und begleitet, nicht nur dem herkömmlichen Klangmaterial, sondern erweitert es um Wisch- und Klopf-, Anblas-, Atem- und Stimmgeräusche. Der Vorgang der Klangerzeugung selbst wird zum Hörereignis, gesetzt mit außerordentlicher Sorgfalt und Genauigkeit. Die neuen Spieltechniken, die mittlerweile in das Repertoire Neuer Musik eingegangen sind, zeugen sowohl von musikalischer Traditionsgewissheit als auch von reflektierter, auch politischer, Zeitgenossenschaft.
Zu Lachenmanns wichtigsten Werken gehören u.a. temA (1968), Mouvement (- vor der Erstarrung) (1982/84), Das Mädchen mit den Schwefelhölzern (1997), die alle auch auf CD-Veröffentlichungen vorliegen.
Diverse Preise, Ehrendoktorwürden und u.a. das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse wurden ihm in den letzten 40 Jahren verliehen.
“Notturno (Musik für Julia)“
Das Stück, gewidmet Lachenmanns 1966 geborener Tochter, gilt als Schlüsselwerk Lachenmanns. Es enthält ein Vorher und ein Nachher. Geteilt durch die Kadenz des Solocellos ist nachzuvollziehen, wie eine ältere Ästhetik und eine jüngere noch nebeneinander existieren. Die ältere, „welche den Klang als Resultat und Ausdruck abstrakter Ordnungsvorstellungen versteht, und eine jüngere, in welcher jede Ordnung möglichst konkreter und unmittelbarer Klangrealistik dienen soll“, so Lachenmann selber. Erstmals systematisch werden Spieltechniken notiert, die vorschreiben, wie die Instrumente in unkonventionellen, abweichenden Arten zu benutzen sind. Dabei werden auch die Erfahrungen verarbeitet und auf den klassischen instrumentellen Apparat übertragen, die die Beschäftigung mit elektronischen Medien erbracht hatten. So atmet das Stück exemplarisch die Aufrichtigkeit des musikalischen Ethos: Eine neue Art zu komponieren tilgt die alte Art nicht einfach aus und der Klang löscht nicht die Anstrengung der Klangerzeugung, sondern auch diese wird in ihr ästhetisches Recht gesetzt. Das vermeintlich Verbotene der anderen Art der Klangerzeugung zeitigt dabei – neben anderem Interessanten – eine neue Schönheit.
Elena Mendoza, geboren 1973 in Sevilla, Spanien, studierte Germanistik in ihrer Heimatstadt sowie Klavier und Komposition, in Zaragoza bei Teresa Catalán, in Augsburg bei John Van Buren, in Düsseldorf bei Manfred Trojahn und in Berlin bei Hanspeter Kyburz. Es folgten mehrere Stipendien, u.a. an der Ensemble Modern Akademie in Frankfurt am Main. Sie hat u.a. mit ensemble recherche, Klangforum Wien, Ensemble Modern, Vogler-Quartett, Ensemble Mosaik, Ensemble emex, Ensemble Taller Sonoro, Neue Vocalsolisten Stuttgart, Ensemble Ascolta, KNM Berlin, Ensemble espai sonor, Oper Nürnberg, Philharmonisches Orchester Freiburg zusammengearbeitet. Ihre Musik wurde auf Festivals wie Ars Musica Brüssel, Wittener Tage für neue Kammermusik, Eclat Stuttgart, MärzMusik Berlin, Dresdner Tage der Zeitgenössischen Musik, Ultraschall Berlin, Nous Sons Barcelona, Acanthes Metz, Steirischer Herbst Graz, Musica Viva München oder musicadhoy Madrid vorgestellt. Elena Mendoza erhielt zahlreiche Auszeichnungen, beispielsweise die Fellowship an der Akademie Schloß Solitude (2008), den Musikpreis Salzburg 2011 (Förderungspreis) oder den spanischen Premio Nacional de Música 2010. Ihre Musik liegt in verschiedenen CD-Veröffentlichungen vor.
Elena Mendoza ist Professorin für Komposition an der Universität der Künste, Berlin.
„Dort, doch, auch, nicht, vielleicht“
Windgriff von Hans Magnus Enzensberger
Manche Wörter
leicht
wie Pappelsamen
steigen
vom Wind gedreht
sinken
schwer zu fangen
tragen weit
wie Pappelsamen
Manche Wörter
lockern die Erde
später vielleicht
werfen sie einen Schatten
einen schmalen Schatten ab
vielleicht auch nicht
Stefan Streich, geboren 1961 in Schwäbisch Hall; lebt und arbeitet heute in Berlin.
Von 1982–1990 hat Streich an der Städtischen Akademie für Tonkunst Darmstadt (Gitarre bei Wilfried Senger, Komposition bei Toni Völker) studiert, später eine Lehrtätigkeit im Fach Gitarre an der Musikschule Crailsheim und privat verfolgt.
Seinem Kompositionsstudium bei Helmut Lachenmann an der Musikhochschule Stuttgart folgten Kompositionskurse bei Boguslav Schäffer, Isang Yun und Gottfried Michael Koenig. Bei zahlreichen Aufführungen und Radioaufnahmen seiner Stücke im In- und Ausland, medienübergreifenden Projekten, Theaterarbeiten und Performances hat Stefan Streich mitgewirkt. Vorträge und Seminare hat er u.a. an der Columbia University, Department of Music New York City, an der Humboldt-Universität Berlin, der Universität Potsdam und an der Musikhochschule Karlsruhe gehalten. Stipendien wurden ihm u.a. von der Deutschen Akademie Villa Massimo Rom, den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik Darmstadt, der Heinrich-Strobel-Stiftung des Südwestrundfunks Freiburg, dem Künstlerhaus Schloß Wiepersdorf, und dem Herrenhaus Edenkoben zugedacht. Er erhielt den 1. Preis des Kompositionswettbewerbs der Stadt Stuttgart. Stefan Streich ist seit 2009 künstlerischer Leiter der Klangwerkstatt Berlin - Festival für Neue Musik. Zuvor war er von 1997-2002 Mitgründer und künstlerischer Leiter der interdisziplinären Künstlergruppe WEISS Kunstbewegung.
„Ritorno Grosso“
Im Jahr 2008 schrieb Stefan Streich zu einer früheren Version seines Stückes: „Bassflöte und Bratsche sind sich in ihrer Klanglichkeit sehr nahe. Beide Instrumente spielen in exakt derselben tiefen Mittellage und klingen dort ganz ähnlich weich und samtig. Gleichzeitig stehen sich die grundsätzlich verschiedenen Klangcharaktere eines Blas- und eines Streichinstruments gegenüber. Die Unterschiede in Material, Bauweise und Klangerzeugung sind immens. Alles was in diesem Stück passiert hat seinen Ursprung in der Spannung dieses gleichzeitigen Nah-Und-Fern-Seins der beiden Instrumente. Die Musik folgt der Reibungsenergie und der Eigendynamik, die aus Verschmelzen und Abstoßen entstehen. Der Titel ‚Ritorno’ (ital. Rückkehr oder Wiederkehr) bezieht sich auf den prozesshaften Umgang mit diesen Energien: Auf klangliches Auseinanderstreben folgt Verschmelzung. Das konkrete melodisch-rhythmische Geschehen kann dabei ganz verschiedenen Regeln folgen. Nicht ein bestimmtes musikalisches Material kehrt wieder, sondern die Zustände des Bei-Sich- und des Beieinander-Seins der Instrumente. Sie fabulieren, singen gemeinsam, werfen sich Bälle zu, tasten Klangräume ab, geraten in rhythmische Pulsationen. Im Unisono sind sie sich sehr nahe und eine solistische Passage wird in diesem Kontext zum Extremfall des Zusammenspiels.“ Dadurch, dass dem Duo in der neuen Fassung ein Kammerorchester gegenübergestellt wird bzw. dass das Duo eingebettet wird in dieses Ensemble, wiederholt sich das Prinzip der fernen Nähe erneut. Klanglich ist das Kammerorchester eher von einer gewissen klanglichen Härte geprägt im Gegensatz zum weichen Solisten-Duo. Spielweisen und und konkrete Instrumentation verstärken und schwächen diesen Kontrast ab. Solisten und Tutti nähern sich an und entfernen sich voneinander.
Die Neufassung ist als Auftragswerk für den Landesmusikrat Berlin entstanden.
(Programmhefttexte des Konzerthauses Berlin)